Rezension Andrea Schütze: Robert Harris, Titan
Literatur-Rezension
Mit
einem furiosen Paukenschlag eröffnet Robert Harris den zweiten Teil
seiner Cicero-Trilogie, die sich mit einem Zeitrahmen von Ciceros
Konsulat und politischem Abstieg in die Verbannung chronologisch zwar
an den ersten Teil anschließt, allerdings für das Verständnis das Lesen
des ersten Teils nicht zwingend voraussetzt.
Auftakt bildet ein schauerlicher Kriminalfall, den Robert Harris mit
der ihm eigenen Kraft zu visualisieren als schauriges Omen beschwört.
Die Leiche eines offenbar einem Ritualmord zum Opfer gefallenen,
ausgeweideten (!) Jungen wurde im Hafen gefunden. Wie sich
herausstellt, handelt es sich bei ihm um den Musik-Sklaven von Ciceros
Konsulatskollegen Gaius Antonius Hybrida. Cicero bereits zum Konsul
gewählt, sein Amtsantritt steht unmittelbar bevor, wird an den Tatort
gerufen. Tat und Schauplatz rufen Assoziationen einer antiken Version
von Thomas Harris´ „The Silence of the Lambs / Das Schweigen der
Lämmer“ wach. Cicero, einem Tatort-Kommissar ähnlicher als einem
römischen Senator, wird von Harris in eine derart intensiv gezeichnete
Szenerie verfrachtet, die das Zischen und Pfeifen der Blitzlichter
einer herbeigerufenen Spurensicherung trotz historischer Unmöglichkeit
nicht ungewöhnlich erscheinen ließe. Das ganze schauerliche Ereignis
könnte ein negatives Omen darstellen. Als Leser ahnt man nichts Gutes,
v.a. mit Blick auf die bewusst zur Schau gestellte Bestialität des noch
im Verborgenen stehenden Täters. Wer die Geschichte von Ciceros
Konsulat kennt, vermutet bereits an dieser Stelle, dass sich dahinter
die Gestalt verbergen könnte, die von Cicero im Zuge seines Konsulats
und seiner anschließenden Rechtfertigung am meisten dämonisiert wurde:
Lucius Sergius Catilina.
Der erste Teil findet im Prinzip im historischen Rahmen der
Catilinarischen Verschwörung statt, doch setzt Harris den Fokus nicht
allein auf die Gestalt des von Cicero stilisierten oder realen
Staatsfeindes Catilina, sondern eröffnet ein viel weiterreichenderes
Geflecht. Catilina erscheint in diesem Machtpoker, der nach anderen
Spielregeln als bisher abläuft, nicht als die treibende Kraft, wie es
Cicero in seinen Reden vortrug und worin ihm Generationen von
Historikern folgten, sondern als seinerseits im Spielfeld eingesetzte
Spielfigur noch größerer Spieler, die man als Leser in Gestalten wie
Pompeius, Crassus und dem in diese Liga aufsteigenden Caesar zu erahnen
meint. Diese Zeitenwende markiert Harris sehr eindrucksvoll in dem
Leichenzug, der pompa funebris des vom Schlaganfall dahingerafften
Pontifex Maximus Metellus Pius (S. 102 f.). Harris illustriert in
seiner sehr anschaulichen Schilderung der pompa nicht nur ein für die
Nobilität dieser Zeit wesentliches Identifikations- und
Abgrenzungsmomentum, sondern spricht zugleich den Abschied von der
Macht einer bis dahin herrschenden, breiteren Gesellschaftsschicht
zugunsten weniger Mächtiger an: „Es war, als wüssten wir alle, dass wir
mit Pius […] Abschied von der alten Republik nahmen und nun etwas
anderes in seinen Geburtswehen lag“ (S. 103). Die überraschend
unerwartete Wahl Caesars zum Pontifex Maximus läutete diese Wende ein.
Überhaupt nimmt Harris in diesem Teil nicht nur die Position des
Geschichtenerzählers ein, sondern analysiert zugleich an vielen Stellen
für den Leser sehr faszinierend die historischen bzw. politischen
Zusammenhänge.
Die Skizzierung der Charaktere ist Harris teils sehr gut gelungen, wie
etwa der frühe Protegé Ciceros, Rufus, der sich vom Parteigänger
Ciceros zu dessen erbittertem Gegner wandelt (vgl. S. 48 f.), oder
(besser als im Teil 1 der Trilogie) die Gestalt der Terentia, die ihrem
scharfzüngigen und nicht immer so genialen Gatten zwar ordentlich
„Zündung“ gibt („Kommt wahrscheinlich in Macedonia alles wieder rein“,
S. 74), die sich aber andererseits zu einem echten und zuverlässigen
Partner wandelt. Andere Gestalten hingegen erscheinen teilweise etwas
zu überzeichnet, wie die zu einseitige und dämonisierende
Charakterisierung Caesars (S. 35 f.), was allerdings gegenüber einer
von Historikern (zu) oft gepflegten procaesarischen Haltung einen
interessanten und wohltuenden Kontrapunkt setzt. Gleichfalls wurden die
beinahe im Stil einer Jane Austen geratenen Gestalten der Nobiles mit
ihren Ressentiments gegen den Aufsteiger und homo novus Cicero (S. 26)
etwas zu deutlich karikiert. Auch Cicero selbst erscheint – wie schon
in Teil 1 – sehr modern, manchmal fast zu modern im Typus eines Anwalts
nach der Manier John Grishams. Andererseits setzt Harris in Ciceros
Charakterisierung eine interessante Demaskierungstendenz fort, wie sie
im erhaltenen Briefwechsel Ciceros jedem Leser entgegentritt, der
zunächst nur Ciceros Reden und philosophischen Schriften kannte und nun
vom anderen, von Selbstzweifeln und Unsicherheiten geplagten Menschen
Cicero sehr überrascht wird. So lässt uns Tiro wissen, Cicero habe
schlaflose Nächte zugebracht, habe im kreativen Chaos seines Büros an
seinen Reden gefeilt und den Boden mit verworfenen Ansätzen übersät
oder sich wegen zu großer Aufregung vor seinen öffentlichen Auftritten
hinter den Kulissen auch bisweilen übergeben. Hier tritt dem Leser eine
Persönlichkeit entgegen, die nicht den hehren Staatsmann und
abgeklärten Philosophen vorstellt, den uns Cicero als vom ihm bewußt
anvisierte Nachwelt gerne glauben zu machen suchte, sondern es ist ein
zutiefst in seiner Menschlichkeit befangener Politiker, der in erster
Linie jedoch ein Mensch bleibt.
Im Ganzen zeigt sich Harris gegenüber dem ersten Teil in seiner
Darstellungskraft deutlich gereift. Seine szenischen Beschreibungen
sind voll von Blicken, Gesten, bis hin zu Schnuten und herablaufendem
Speichel als an den Leser herangetragene erzählerische Zooms, die den
kontrollierten Handlungen und kontrolliert gesprochenen Worten dieser
Elite das psychologisch entlarvendere Momentum unkontrollierter
Indizien für das wahrhaft Dahinterstehende einer Gesellschaft
entgegensetzt, die – wie Harris gleich mehrfach herausstreicht – extrem
intensiv auf kontrollierte Eigen- und Gruppendarstellung bedacht war.
Interessant ist auch das scheinbar Widersprüchliche einer von Omen
bestimmten antiken Weltsicht, die zu glauben Cicero zwar ausdrücklich
von sich weist (unterhaltsam in diesem Zusammenhang auch die Szene der
vom Augur gefälschten Vorzeichen) deren Unwirksamkeit dem Leser in der
abergläubischen Manier eines Sueton allerdings nicht zweifelsfrei
erscheint, so etwa der Eingangs angeführte Ritualmord am Tag vor
Ciceros Amtsantritt, ungewöhnlicher Schneefall (S. 23), eine
Wolkenstimmungen mit Abendrot, die einem blutdurchtränkten Verband
gleicht (S. 107), ein Zucken der Beine während des Ausweidens des noch
nicht ganz toten Opferstieres (S. 61), eine einem Speer gleichende
Sternschnuppe oder ein plötzliches Verdunkeln des Mondes als böse Omen
(S. 75), das alle Teilnehmer dieses Erlebnisses in helle Aufregung
versetzt. Sie alle lassen die folgenden historischen Entwicklungen aus
der religiösen Warte eines Römers nicht anders als folgerichtig
erscheinen. Harris spielt hier sehr schön auch mit dem heutigen Leser,
für den er den paganen Vorzeichenglauben nicht entmystifiziert – im
Gegenteil: „An die Zweige der Bäume und Büsche hatten die Einheimischen
kleine Figuren und Masken aus Holz oder Wolle gehängt, die an die Zeit
erinnerten, als noch Menschenopfer dargebracht und ein kleiner Junge
erhängt wurde, um das Ende des Winters zu beschleunigen. Die bittere
Kälte, die zunehmende Dämmerung, die unheimlichen, im Wind raschelnden
Symbole – alles war von einer Schwermut durchdrungen, die ich kaum zu
beschreiben vermag“ (S. 74).
Neben diese abergläubische Seite der Römer stellt Robert Harris eine
auf Sensationen und derben Klatsch bedachte römische Welt vor, seien es
die schmutzigen Zoten, die im Zusammenhang mit Caesars Wahl zum
Pontifex Maximus über ihn und die Vestalischen Jungfrauen in Umlauf
geraten, seien es die von Harris grandios geschilderten Rednerszenen,
wie etwa einprägsame Tumulte in der Volksversammlung (S. 89 ff.), in
der der Mob in gefährlichenAusschreitungen außer Kontrolle zu geraten
droht: „Die drei Männer schienen von dem Speichel zu glitzern, mit dem
sie auf ihrem Weg zum Podium bespuckt worden waren“ (S. 90). Nicht
weniger spektakulär inszeniert Harris die psychologische Demagogie
Ciceros. Ein nicht anders als mutiges Unterfangen darf es genannt
werden, dass Harris Cicero selbst reden lässt. Kein Redner dürfte in
seiner Rhetorik besser analysiert worden sein als Cicero und Harris
scheint sich hier zunächst auf dünnes Eis zu begeben, wenn er ihm nicht
nur Worte, sondern eine ganze Rede in den Mund legt. Kann es Robert
Harris wirklich mit einem Marcus Tullius Cicero aufnehmen? – Robert
Harris dürften hier zwei wesentliche Gesichtspunkte hilfreich zur Seite
stehen: Einmal erweist sich die Tatsache als äußerst hilfreich, dass
die intensiven Rhetorik-Analysen nicht auf den live gehaltenen Reden
Ciceros, sondern später veröffentlichten und sicherlich noch stark
redigierten Publikationen des Redners beruhten. Weiter kommt Robert
Harris nun sein klug gewählter Aufbau zur Hilfe, die Handlung in die
Memoiren des alten Tiro einzukleiden, denn es spricht zu keinem
Zeitpunkt der reale Cicero zum Leser, sondern man hört und sieht ihn
nur durch die alten Augen Tiros, der aus der Erinnerung eines langen,
fast hunderjährigen Lebens auf diese Ereignisse zurückblickt.
Robert Harris hat sich im zweiten Teil seiner Cicero-Trilogie nicht nur
deutlich gesteigert, sondern ist über das Niveau des ersten Teils
eindeutig hinausgewachsen. Während im ersten Teil noch viel Modernes
antik überklebt erscheint, beginnt er im zweiten Teil vor dem Leser ein
grandioses Sittengemälde zu entfalten, das nicht nur zweidimensional
zum interessierten Betrachten einlädt, sondern den Leser
dreidimensional in die römische Welt hineinzuziehen scheint und ihn
nicht eher ruhen lässt, als bis er die letzte Seite dieses absolut
empfehlenswerten Buches gelesen hat.
Andrea Schütze
Andrea Schütze München, Andrea Schuetze, Lupa Romana, Historikerin, Rechtshistorikerin, Althistorikerin, Mediävistin, Kunsthistorikerin, Rechtshistorikerin, Archäologin,
Rezension.
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